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Der Mona-Lisa-Effekt: Wie Augenflecke Falter nach allen Seiten vor Räubern schützen

Augenflecke vieler Beutetiere schrecken Räuber ab, so auch die des Tagpfauenauges. In einer neuen Studie zeigen Forschende des Max-Planck-Instituts für chemische Ökologie und der Universität Newcastle, dass die Konfiguration der Augenflecke einen Einfluss auf das Überleben der Beutetiere hat. Küken lassen sich eher abschrecken, wenn die Augenflecke den räuberischen Vogel direkt anzuschauen scheinen. Am wirksamsten sind konzentrische Kreise, die subjektiv den Eindruck erwecken, den Blickkontakt aufrechtzuerhalten, unabhängig von der Perspektive, aus der sich der Angreifer nähert (Frontiers in Ecology and Evolution, Oktober 2022, doi: 10.3389/fevo.2022.951967).

Ein Tagpfauenauge (Aglais io) hat auf der Oberseite jedes Vorder- und Hinterflügels Augenflecke, die Betrachtende anzuschauen scheinen. © Hannah Rowland

Schau mir in die Augen: In der Natur eine Frage von Leben und Tod

Besucherinnen und Besucher einer Gemäldegalerie kennen das Gefühl vielleicht: Sie fühlen sich von den Porträts beobachtet oder gar verfolgt, egal, wo sie sich im Raum aufhalten. Dieser Eindruck wird nach dem bekanntesten Porträt mit der beschriebenen Wirkung „Mona-Lisa-Effekt“ genannt und kommt dadurch zustande, dass die Pupillen der porträtierten Person exakt zentriert sind. Manche Tiere, darunter viele Fische und Schmetterlinge, haben paarweise angeordnete kreisrunde Flecke auf ihrem Körper, die Augen sehr stark ähneln. „Die Natur scheint den Mona-Lisa-Effekt ebenfalls zu nutzen. Doch im Tierreich kann es um Leben und Tod gehen. Augenflecke können einschüchternd wirken und Räuber davon abhalten, überhaupt anzugreifen, denn sie halten die Augenflecke für die Augen ihrer eigenen Feinde“, sagt Hannah Rowland, Leiterin der Max-Planck-Forschungsgruppe Räuber und giftige Beute am Max-Planck-Institut für chemische Ökologie in Jena.

Eine Frage der Blickrichtung

Um die Wirkung des Mona-Lisa-Effekts zu testen und eine allgemeine abschreckende Wirkung auffälliger Muster auszuschließen, entwickelte Hannah Rowland zusammen mit ihrem Kollegen John Skelhorn von der Universität Newcastle ein Verhaltensexperiment mit frisch geschlüpften Küken von Haushühnern, die sie darauf trainierten, künstliche Pfauenaugen anzugreifen, um eine Belohnung in Form von Mehlwürmern zu erhalten.  Nachdem die Küken gelernt hatten, wie man die Beute angreift, wurde ihnen jeweils einer von drei verschiedenen künstlichen Faltern vorgesetzt: einer mit Augen, deren Mittelkreise nach links verschoben waren, einer, dessen „Augen“ nach rechts blickten, sowie einer mit perfekt konzentrischen Kreisen; sie schienen also nach vorne oder zu einer der beiden Seiten zu blicken. Dann bauten die Forschenden Mini-Laufstege für die Küken, die entweder direkt zum Futter führten oder sich seitlich der Beute näherten.

Die Ergebnisse der Verhaltensexperimente waren eindeutig: „Die Küken näherten sich vorsichtiger von links, wenn die Augenflecke nach links zu blicken schienen. Ähnliche Vorsicht zeigten sich von rechts nähernde Küken, wenn die Augenflecke nach rechts verschoben waren. Wenn sich die Küken dem künstlichen Pfauenauge jedoch aus der entgegengesetzten Richtung näherten, attackierten sie den vermeintlichen Falter und fraßen den Mehlwurm schnell auf. Faltern mit konzentrischen Kreisaugen näherten sich die Küken aus allen Richtungen nur mit großer Vorsicht“, fasst John Skelhorn die Beobachtungen zusammen.

Küken nehmen Augenflecke als Augen wahr

Die Verhaltensbeobachtungen bestätigen die Vorhersage, dass die Küken die künstlichen Augenflecke tatsächlich als Augen wahrnehmen. „Augenflecke mit konzentrischen Kreisen scheinen vermeintliche Räuber, wie unsere Küken, aus vielen Richtungen anzustarren, genau wie Porträts, die den Blickkontakt zu halten scheinen, egal, wo man im Raum steht. Dies erklärt vermutlich auch, warum sich Augenflecke in der Natur in verschiedenen Tieren unabhängig voneinander entwickelt haben, um erfolgreich Feinde abzuschrecken“, vermutet Hannah Rowland.

Hannah Rowland leitet am Max-Planck-Institut für chemische Ökologie in Jena die unabhängige Max-Planck-Forschungsgruppe Räuber und giftige Beute.  Ihr Schwerpunkt liegt  auf Räuber-Beute-Beziehungen, die seit langem als Modelle für die Untersuchung von Anpassung und Fitness in natürlichen Umgebungen dienen und einige der besten Beispiele für parallele Evolution liefern. Hannah Rowland und ihr Team nutzen Werkzeuge aus der Chemie kleiner Moleküle, der Computerbiologie, der Physiologie, der Molekular- und Zellbiologie sowie der Verhaltensökologie, um folgende grundlegenden Fragen zu beantworten: Wie entstehen und etablieren sich neue Merkmale in Populationen? Wie variieren Merkmale auf verschiedenen Ebenen, d. h. zwischen Individuen innerhalb von Populationen und zwischen Populationen? Welches sind die Faktoren, die die Variabilität von Merkmalen fördern und erhalten? Die Antworten auf diese Fragen sind nützlich, um die ökologischen und evolutionären Prozesse zu ermitteln, die Wechselwirkungen zwischen Lebewesen zugrunde liegen. Sie helfen auch dabei, die Ursprünge der biologischen Vielfalt und der lokalen Anpassung zu verstehen und herauszufinden, wie biologische Systeme auf Herausforderungen ihrer Umwelt reagieren.