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Chemisches Signal schützt Wanderheuschrecken vor Kannibalismus

Forschende des Max-Planck-Instituts für chemische Ökologie zeigen in einer neuen Studie in der Zeitschrift Science zusammen mit Partnern aus China und der Universität Halle, dass die Europäische Wanderheuschrecke Locusta migratoria die Verbindung Phenylacetonitril (PAN) bildet, um sich bei zunehmender Populationsdichte gegen Fraßangriffe durch Artgenossen zur Wehr zu setzen. Bei Heuschrecken, die diesen Wirkstoff nicht mehr produzieren konnten, nahm die Kannibalismusrate zu. Außerdem identifizierten die Forschenden in den Heuschrecken den Geruchsrezeptor für PAN. Sie zeigten an Tieren, in denen der PAN-Rezeptor nicht mehr funktionierte, dass dieser für die Wahrnehmung von PAN und die Unterdrückung von kannibalistischem Verhalten notwendig ist. Die Entdeckung eines Anti-Kannibalismus-Pheromons bietet neue Ansätze für die Heuschreckenbekämpfung (Science, April 2023, DOI: 10.1126/science.ade6155).

Kannibalistische Fraßattacke: Eine Europäische Wanderheuschrecke der Art Locusta migratoria verspeist eine Artgenossin. Kannibalismus wird als einer der wesentlichen Treiber für das verheerende Schwarmverhalten
von Heuschrecken angesehen. Foto: Benjamin Fabian, Max-Planck-Institut für chemische Ökologie [Quelle: MPI-CE)

Riesige Schwärme von Wanderheuschrecken nehmen das Ausmaß von
Naturkatastrophen ein und bedrohen vor allem in Afrika und Asien die
Nahrungsmittelversorgung von Millionen von Menschen. Als achte der zehn
biblischen Plagen wird bereits im Buch Mose des Alten Testaments beschrieben,
wie Heuschreckenschwärme den Himmel verfinsterten und alles auffraßen, was
auf den Feldern und an den Bäumen wuchs. Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler vermuten, dass Kannibalismus unter den Heuschrecken zu
ihrem Schwarmverhalten beiträgt, und Schwärme deshalb ständig weiterziehen,
weil einzelne Tiere buchstäblich ständig auf der Flucht vor den sie verfolgenden
Artgenossen sind. „Wir fragten uns, wie sich diese Insekten innerhalb der
riesigen Schwärme gegenseitig in ihrem Verhalten beeinflussen, und ob der
Geruchssinn dabei eine Rolle spielt. Eine wichtige Grundlage waren für uns die
Untersuchungen zur Entstehung von Heuschreckenschwärmen von Iain Couzin
vom Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie in Konstanz,“ erläutert
Studienleiter Bill Hansson, Direktor der Abteilung Evolutionäre Neuroethologie
am Max-Planck-Institut, die Ausgangslage der Studie.
Wanderheuschrecken kommen in unterschiedlichen Phasen vor: In der solitären
Phase leben die Insekten einzeln und ortstreu, während sie in der gregären
Phase das typische Schwarmverhalten zeigen, die zu ihrer Bezeichnung als
Wanderheuschrecken passt. „In den meisten Fällen befinden sich Heuschrecken
in der solitären Phase, in der sie den physischen Kontakt mit Artgenossen
meiden und vergleichsweise wenig Nahrung zu sich nehmen. Nimmt die
Populationsdichte aufgrund von Regenfällen und ausreichend Nahrung zu,
verändern Heuschrecken innerhalb weniger Stunden ihr Verhalten, sie können
einander riechen, sehen und berühren. Diese drei Arten der Stimulation
erhöhen den Serotonin- und Dopaminspiegel im Heuschreckenhirn, was dazu
führt, dass aus den solitären Heuschrecken aggressive gregäre Heuschrecken
werden, die sehr aktiv sind und einen großen Appetit haben. Außerdem setzen
sie Aggregationspheromone frei, was schließlich zu Schwarmbildung führt und
die landwirtschaftliche Produktion bedroht. Nur in der gregären Phase kommt
es zu Kannibalismus,“ erläutert der Erstautor der Studie Hetan Chang.
Verhaltensexperimente mit der Europäischen Wanderheuschrecke Locusta
migratoria zeigten, dass die Kannibalismusrate zunahm, je mehr gregäre Tiere
zusammen in einem Käfig gehalten wurden. Es gibt also einen direkten
Zusammenhang zwischen Populationsdichte und kannibalistischem Verhalten.
Um herauszufinden, ob gregäre Heuschrecken besondere Düfte abgeben, die in
der solitären Phase nicht produziert werden, analysierte das Forschungsteam
alle Duftstoffe, die von solitären und gregären Heuschrecken im Jugendstadium
abgegeben werden, und glich sie ab. Von den 17 Düften, die nur in der gregären
Phase gebildet wurden, stellte sich in Verhaltenstests nur Phenylacetonitril
(PAN) als Duftsignal heraus, das auf andere Heuschrecken abschreckend wirkte.
Für eine weitere Bestätigung für die Funktion von PAN nutzten die
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler genetisch modifizierte Heuschrecken,
die PAN nicht mehr produzieren konnten. „Wir zeigten, dass bei zunehmenderPopulationsdichte nicht nur das Ausmaß des Kannibalismus zunahm, sondern
dass die Tiere parallel dazu auch mehr PAN produzierten. Mittels Genom-
Editierung gelang es uns, ein Enzym auszuschalten, das für die Produktion dieser
Verbindung verantwortlich ist. So konnten wir seine stark antikannibalistische
Wirkung bestätigen, denn der Kannibalismus wurde noch einmal deutlich
gesteigert, wenn die Tiere nicht mehr in der Lage waren, die Verbindung zu
produzieren,“ sagt Hetan Chang.
Die größte Herausforderung bestand darin, den Geruchsrezeptor zu finden, der
PAN erkennt. Da Heuschrecken mehr als 140 Geruchsrezeptor-Gene haben,
musste das Forschungsteam so viele Gene wie möglich klonen und eines nach
dem anderen testen. Tests an 49 verschiedenen Geruchsrezeptoren unter
Verwendung von mehr als 200 relevanten Düften führten schließlich dazu, den
Duftrezeptor OR70a als einen hochempfindlichen und spezifischen Detektor für
PAN in der Europäischen Wanderheuschrecke zu identifizieren.
Verhaltensexperimente mit genetisch veränderten Heuschrecken, deren OR70a-
Rezeptor nicht mehr funktionierte, wiesen wiederum eine stark erhöhte
Kannibalismusrate auf, was darauf zurückzuführen ist, dass das Kannibalismus-
Stoppsignal von den Heuschrecken ohne den entsprechenden Rezeptor nicht
mehr wahrgenommen werden kann.
Ein Pheromon, das Kannibalismus steuert, ist eine absolute Neuentdeckung. Da
Kannibalismus einen großen Einfluss auf die Schwarmdynamik von
Heuschrecken hat, ergeben sich aus dem grundlegenden Verständnis der
Populationsökologie dieser Tiere, insbesondere der Wirkung von PAN, neue
Möglichkeiten, die Ausbreitung von Heuschrecken einzudämmen. „Wenn man
die Produktion von PAN oder die Funktion des Rezeptors hemmt, könnte man
die Heuschrecken dazu bringen, sich kannibalistischer zu verhalten und sich auf
diese Weise möglicherweise selbst zu bekämpfen,“ meint Bill Hansson.
 

Originalveröffentlichung:
Chang, H., Cassau, S., Krieger, J., Guo, X., Knaden, M., Kang, L., Hansson, B. S. (2023) A chemical defense deters cannibalism in migratory locusts. Science, doi: 10.1126/science.ade6155